Ich sitze auf dem Bett, in dem ich wohl die nächsten Nächte schlafen werde. Keine zehn Minuten ist es her, als sie beim Durchsuchen meiner Klamotten das kleine weiße Methadondöschen fanden und eine Art Tumult ausbrach. Ich wußte zuerst gar nicht was los ist- es muß Monate her sein, daß ich mir die Dose in die Jackentasche gesteckt hatte. In meiner dicken Winterjacke und jetzt haben wir JUNI ! Aber das interessiert hier keine Sau, könnte ich ja ganz bewußt gemacht haben, in der Hoffnung, daß sie die Wintersachen jetzt noch nicht filzen. Nachdem ich vorhin ne negative UK abgegeben habe, darf ich jetzt nochmal pissen- könnte ja in der Zwischenzeit vom Methadon genippt haben oder so. Jetzt hocke ich hier und versuche irgendwie die Flasche Wasser runterzubekommen, die sie mir in die Hand gedrückt haben. Fängt alles richtig gut an hier. Daß ich jetzt gerade mal den vierten Tag auf Null bin und ich mich entzügig fühle, setzt dem Ganzen noch die Krone auf.
Plänum ist angesagt. An die Therapiesprache muß ich mich noch gewöhnen. Daß Versammlung hier Plänum heißt, damit kann ich noch leben, aber daß hier Leute, die zig Jahre Knast und Drogensucht hinter sich haben, davon reden, daß sie AMBIVALENT sind, das macht mich scheißsauer. Vor ein paar Wochen waren sie noch unentschlossen, jetzt sind sie ambivalent. Und das ist auch gleich eins von ihren Themen, die sie REFLEKTIEREN und danach bearbeiten müssen. Ich weiß genau, daß mir diese Worte hier nicht einmal über die Lippen gehen werden, egal welcher Gehirnwäsche ich hier ausgesetzt bin.
Artelt kommt rein. Höchstens 1,65m groß, vielleicht 60kg schwer, graue Haare, grauer Schnauzer- und trotzdem erfüllt er mit seiner Erscheinung den Raum mit Energie. Dieser Mann ist der Grund, warum ich hier gelandet bin. Micha hat hier vor zwei Jahren seinen 35er abgerissen- Therapie statt Haftstrafe- und er meinte Artelt wäre ein Top-Therapeut. Das Plänum verläuft ziemlich ruhig, bis wir zu den Regelverstößen kommen. Jeder muß jetzt beichten, inwiefern man in den letzten 24 Stunden gegen die gültige Hausordnung verstoßen hat. Man muß genau abwägen- es gibt so viele Regeln, wenn man behauptet, alles korrekt befolgt zu haben, macht man sich verdächtig. Also erzählt man am besten irgendeinen belanglosen Scheiß, wo nicht weiter nachgehakt wird. So auch diesmal, bis ein Mädel erzählt, sie habe ne Nachtwanderung gemacht. Ich bin völlig überrascht, daß die Kleine so dreist ist, und aus dem Fenster runter- und später wieder hochgeklettert ist, denn anders kommt man hier nachts nicht raus- das große Tor ist dann nämlich abgeschlossen. Die Übertherapierten rasten auch gleich aus und wollen sie rundmachen- Nachtwanderung bedeutet richtig krasser Verstoß- aber Artelt will erst noch die anderen hören. Als ich dran bin, erzähle ich, daß ich nachts zum Kühlschrank geschlichen bin und n Schluck Cola getrunken hab (auf Zimmer ist nur ne Flasche Wasser erlaubt). Erstens stimmt es und zweitens denke ich, daß man dafür ja wohl Verständnis hat. Falsch gedacht…
Fünf Minuten später weiß ich, daß Nachtwanderung in Therapiesprache einfach nur Zimmer verlassen bedeutet. Keiner kann fassen, daß ich das nach nur zwei Tagen gewagt habe. Ich hab das Gefühl, daß Artelt und die anderen Therapeuten das Ganze ziemlich locker sehen. Komiscberweise sind es die Drogis, die null Verständnis für meine ach so grausame Tat haben. Ich bin durch den Turkey noch zu sehr geschwächt, als daß ich mich jetzt auf irgendne Diskussion einlasse, sollen sie ruhig alle auf mich draufhauen.
Als ich später in meinem Zimmer sitze, das ich mir mit Gregor aus Krefeld teile, weiß ich eins genau: entweder ich breche die Therapie in den nächsten zwei Wochen ab oder ich werde dieser völlig kranken, übertherapierten Truppe die Stirn bieten…